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Gewalt in der Fantasy: Konvention oder Notwendigkeit?

·1653 Wörter·8 min

[…] denn selbst das Eisen ziehet den Mann an!

- Homer in Buch 19 der Odyssee

Warum muss es immer um Mord und Totschlag gehen? Ausgerechnet in Fantasy Büchern, dort wo wir uns eine eigene, ganz neue Welt erschaffen, geht es häufig um Kriege und Waffen.

Liegt die Gewalt in der Natur menschlicher Fiktion? Zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn man die Unterhaltungsliteratur stichprobenartig überfliegt: Von der Ilias, über die Märchen der Gebrüder Grimm, bis zum modernen Krimi kommt man um Mord und Totschlag nicht herum. In der Science Fiction werden epische Weltraumschlachten geschlagen und im Thriller wird im Prolog jemand exemplarisch abgeschlachtet.

Das ist kein alleiniges Phänomen der geschriebenen Geschichten. Filme, Comics und Videospiele wären undenkbar ohne die Möglichkeit, dass der Bösewicht um die Ecke kommt und den Protagonisten kleinhackt. Natürlich gibt es Genres, die ohne Handgreiflichkeiten auskommen, man denke etwa an Romance und Mystery Romane, aber die Mehrheit schreckt nicht davor zurück.

Besonders beiläufig taucht Tod und Verletzung aber in der High Fantasy auf, wo eine ordentliche Schlacht zum guten Ton gehört. Ist Gewalt für gute Unterhaltung notwendig? Und warum hat sie ausgerechnet im Genre Fantasy so einen hohen Stellenwert?

Notwendig ist sie vielleicht nicht. Wenn man richtig damit vorgeht, gibt es aber auch wenig zu befürchten.

Fantasy und seine Schlachten #

Das Schwert ist ein zentrales Symbolobjekt für Fantasy. Es gibt zwar Romane mit anderer Bewaffnung wie in den Genres Flintlock und Gunpowder Fantasy, aber mittelalterliche Waffen sind die Norm und Erwartungshaltung. Besonders nervt mich das beispielsweise bei den deutschen Übersetzungen der Buchtitel von Joe Abercrombies First Law Trilogie: Die lauten nämlich „Kriegsklingen“, „Feuerklingen“ und „Königsklingen“, eine sehr freie Übersetzung von Titeln die im Original mit „The Blade Itself“, „Before They Are Hanged“ und „Last Argument of Kings“ deutlich kreativer sind.

Die Gründe für diese Übersetzungen bilden die eindeutige Zuordnung zum Genre und damit die Spezifizierung der Zielgruppe sowie der Wiedererkennungswert. Genres sind nicht zuletzt Werkzeuge des Marketings, und deswegen kann daraus schließen, dass bereits die Erwähnung von Schwertern die Leserschaft an Fantasy denken lässt. Diese Assoziation tut vielen Urban Fantasy Werken Unrecht, aber häufig nur, weil modernere oder magische Mordinstrumente ins Rampenlicht rücken. Gewaltsame Ausschreitungen finden dennoch ihren Weg in die Bücher.

Der Ursprung der Assoziation von Gewalt mit Fantasy kann natürlich bei Tolkien gesucht werden. Auch wenn sich Fantasy deutlich weiterentwickelt hat und weit über das hinausgewachsen ist, was der britische Professor gestiftet hat, so darf man nicht vergessen, was für Themen „Der Herr der Ringe“ in den Mittelpunkt stellt. Tolkiens Kriegserfahrung war prägend für die Geburt dieses neuen Genres und durch die vielen Tolkien Klone des letzten Jahrhunderts sind die Veränderungen, die der Krieg am friedlichen Bürger (dem Hobbit) bewirkt, zentral geblieben. Heute ist es anmaßend Fantasy auf Tolkien zu reduzieren, aber auch historisch ist klar:

Fantasy beinhaltet seit je her Gewalt. Aber warum ist es so geblieben?

Warum überhaupt Gewalt? #

Gewalt erfüllt in der Literatur verschiedene Zwecke. Der offensichtlichste ist die Spannung, die durch einen Mechanismus entsteht, dem Walter Benjamin den Fantasy-mäßigen Ausdruck „mystische Gewalt“ gegeben hat. Oft ist die eigentliche Gewalttat nämlich gar nicht nötig, sondern allein die Androhung reicht aus, um einen Zweck zu erfüllen. Beispielsweise muss die Polizei meistens niemanden verletzen, um Recht durchzusetzen. Es reicht die Gewissheit, dass den Taten Konsequenzen folgen. Außerdem reicht bereits erfahrene Gewalt über den Augenblick hinaus – sie ist noch da, aber nur im Kopf.

So auch in der Fantasy, jedoch auf andere Weise. Um in der Geschichte Spannung aufzubauen, muss die zentrale Figur oft die Enge getrieben werden. Damit diese Drohung glaubwürdig ist, wird im ersten Akt gewissermaßen ein Exempel statuiert, indem beispielsweise der Heimatort der Protagonisin von Orks überfallen wird. Dann trägt die mystische Gewalt zur Spannung bei und die Leserschaft liest weiter, um mit der Auflösung der Spannung einhergehende Katharsis zu erleben.

Brutalität bildet nicht nur ein Instrument um Spannung zu erzeugen, sondern übt auch eine gewisse Faszination aus. Zum Glück verläuft der moderne Alltag größtenteils friedlich. Dennoch erreichen uns Nachrichten, in denen es anders zugeht und die Frage stellt sich, was würde ich in jener Situation unternehmen? Könnte ich bei einem Straßenüberfall das Opfer retten?

Bei solchen Tagträumen lockt die Fantasy mit der Macht, die mit der Gewalt einhergeht. Körperliche Überlegenheit in einer Situation, in der es auf diese ankommt, gibt die Möglichkeit anderen Menschen seinen Willen aufzuzwingen. Diese Kontrolle übt eine Faszination aus, die in der Fantasy gerne aufgegriffen wird. Einer mächtigen Magierin sieht man gefesselt beim Kämpfen zu, wie sie mit ihren Fähigkeiten ganzen Menschengruppen ihren Willen aufzwingt, indem sie etwa die Zeit verlangsamt und so die gefährliche Situation zu ihren Gunsten entscheidet. In einer friedlichen Welt wären solche Eskalationen von Macht, wie sie die Leserschaft gerne konsumiert, schwierig umzusetzen.

Selbstverständlich kann die Gewalt auch notwendig sein, um ein Thema zu verarbeiten. Dafür ist Fantasy vergleichsweise ungeeignet, denn Fantasy erhält durch sein fiktionales Setting immer eine gewisse Distanz zur echten Welt. Gerade bei diesem Thema, zu dem es viele historische und aktuelle Beispiele gibt, ist dieser Abstand unnötig. Aus der Sicht eines Opfers eines echten Ereignisses zu lesen, führt schneller zu starken Emotionen und komplexen Aussagen zum Thema.

Gewalt kann also mehren Zwecken dienen. Sie erzeugt Spannung mithilfe mystischer Gewalt, befriedigt eine Faszination und bedient angrenzende Themen. Allerdings tritt sie auch ohne einen offensichtlichen Zweck auf, vielleicht weil es inzwischen eine Genrekonvention geworden ist. Dann würde ich von flacher Gewalt sprechen, wenn keine weitere Tiefe durch ein Thema gegeben ist oder kein nennenswerter Beitrag zur Spannung.

Diese flache Gewalt bringt keinen Mehrwert und schadet im schlimmsten Fall. Aber wie viel Einfluss übt sie aus? Was beeinflusst die emotionale Reaktion?

Wie real ist die Gewalt? #

Wichtiger als wie viel Gewalt vorkommt ist wie sie vorkommt, insbesondere was und wie sie beschrieben wird. Dieser Aspekt ist essenziell für die Bewertung der Situation, weil er die emotionale Verbundenheit der Leserschaft mit dem Text stark beeinflusst. Als Maß hierfür will ich die Realitätsnähe betrachten.

Der erste Faktor ist der Detailgrad, in dem die Gewalt beschrieben wird, also beispielsweise, ob körperliche Verletzungen abstrakt oder sehr nachfühlbar erzählt werden. Für die erste Variante würde „offener Beinbruch“ reichen, die zweite würde eher auf eine Darstellung wie „Knochen knackt hörbar und ein weißer, scharfer Knochen tritt durch das Fleisch“ zurückgreifen.

Aber auch der Realismus von Konsequenzen kann zur Realitätsnähe beitragen. Wenn sich zum Beispiel zwei Duellanten stundenlang mit dem Schwert fuchteln, so entspricht das nicht der Realität, wo Kämpfe sehr schnell zu Verletzungen führen. Die Leserschaft bemerkt das Unrealistische und kann Fiktion und Realität besser unterscheiden.

Am Wichtigsten ist allerdings die Art der Gewalt selbst, die beschrieben wird. Die Belagerung einer Burg tritt weniger Nahe an die Lebensrealität der Leserschaft heran als häusliche Gewalt. Damit meine ich nicht, welche Gefahren im Alltag realistisch sind, sondern welche Emotionen nachvollziehbar sind.

Spätestens hier wird klar, dass die Realitätsnähe von den individuellen Erfahrungen zusammenhängt und nicht objektiv bewertet werden kann. Das heißt es gibt Personengruppen, die von einem bestimmten Grimdark Roman weniger emotional getroffen werden, als einem bestimmten Romantacy Buch. In Subgenres wie Grimdark, gehen Beschreibung von Gewalt in der Regel mehr ins Detail als etwa bei Romantacy. Allerdings könnte ein Romantacy Roman, der das Thema Machtmissbrauch in einer Beziehung aufgreift, mit weniger Details näher an manche Lesende heranrücken.

Die Nähe der Gewalt zur Realität erhöht also die emotionale Reaktion. Wie diese Reaktion positiv oder negativ ausfällt, ist hieraus allein aber noch nicht begründbar.

Was macht Darstellung von Gewalt mit uns? #

Das Thema ist nicht neu. Schon ewig geistert die berühmte Killerspieldebatte in unserer modernen Gesellschaft herum. Die Vorstellung, dass jemand von einem Fantasybuch zum Morden inspiriert wird, halte ich für äußerst abenteuerlich. Es gibt aber durchaus reale Konsequenzen, die unser Umgang mit Gewalt mit sich bringt, und nicht alle sind schlecht.

Besonders herausfordernd können Darstellungen für Personen sein, denen im echten Leben Gewalt widerfahren ist. Für Sie kann lesen eines Buches, in dem ein Ähnliches Schicksal dargestellt wird, Erinnerungen auffrischen und eventuell Schaden anrichten. Zwar könnte die Auseinandersetzung mit dem Thema auch der Aufarbeitung dienen, aber dazu braucht es Sorgfalt und Einfühlungsvermögen beim Schreiben. Und natürlich Content Notes.

Content Notes, früher auch Triggerwarnungen, weisen darauf hin, welche eventuell belastende Themen (z. B. selbstverletzendes Verhalten, Alkoholsucht) behandelt werden. Damit können Betroffene selbst entscheiden, ob ein Buch geht oder nicht. Das halte ich für ein wichtiges Werkzeug, das einer kleinen Personengruppe mit wenig Aufwand viel helfen kann. Dazu müssen Verlage und online Händler noch mehr in die Verantwortung gezogen werden.

Glücklicherweise tritt die Mehrheit nicht in direkten Kontakt mit Gewalt in der Form wie wir sie gerne lesen. Hier muss man zugeben, dass die ständige Anwesenheit der Gewalt eine Art Normalität zuspricht. Einerseits könnte es in einer Ausnahmesituation hilfreich sein, sich zuvor (realistisch) mit Verletzungen auseinandergesetzt zu haben und

Einerseits könnte es in einer Ausnahmesituation gut sein, eine (realistische) Auseinandersetzung mit Verletzungen zu haben und bestenfalls verhindern, dass man in eine Starre fällt anstatt zu helfen oder sich in Sicherheit zu bringen. Inwiefern man fiktional durchdachte Szenarien aber auf Handlungen in der Realität übertragen kann, ist fraglich – besonders in der Fantasy, wo das Waffenarsenal meist anders ist.

Fazit #

Gewalt hat eine Tradition im Genre Fantasy und ist erstmal nichts Schlechtes. Allerdings sollten Schreibende trotzdem kritisch mit dem Thema umgehen. So muss man unterscheiden zwischen einer realistischen Darstellung, die bewusst über Gewalt sprechen möchte, und einem körperlich gewordenen Konflikt als plot device, um Spannung in der Geschichte aufzubauen. Sogenannte Content Notes erleichtern es Betroffenen, bestimmte Themen wie etwa sexuelle Gewalt in ihrer Buchauswahl zu vermeiden. Mit verantwortungsvollem Umgang kann Fantasy also seine epischen Kampfszenen behalten ohne größere negative Folgen.

Kurzgefasst, erwarte ich als Leser folgendes: Setzt sich der Text kritisch mit Gewalt auseinander? Wenn ja, dann go for it, aber bitte mit Content Note. Wenn nein, dann muss es Gewalt einem Zweck in der Geschichte Dienen, sonst ist es flache Gewalt und unnötig. Besonders wenn die Darstellung sehr Realitätsnah ist oder emotional aufwühlend sein könnte, erwarte ich trotzdem Content Notes. Dann lese ich es gerne.